Sonntag, 30. September 2012

Die Übereinkunft

Ich steige in die S-Bahn in Richtung Hochschule ein. Wie jeden Morgen ist sie um diese Uhrzeit ziemlich überfüllt und ich mache mich klein auf meinem Sitzplatz. Ich mag das nicht, dieses höfliche sich ganz Zurücknehmen, bloß keinen Ellbogen auf den nächsten Sitzbereich überstehen lassen, als wenn hier eine Grenze aus Stacheldraht gezogen wäre, und jedes Körperteil das übersteht, es augenblicklich büßen müsse.

 Nach einigen Haltestellen, als die meisten Leute auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle oder Schule ausgestiegen sind, stehe ich von dem immer noch voll besetzten Vierer-Sitzplatz auf und suche mir eine freie Bank. Komisch, wo sich in anderen Regionen wie Südostasien die Leute bewusst dort hinsetzen, wo schon jemand ist, und nicht umgekehrt.

 Ich stelle meine Tasche neben mir ab, was signalisieren soll: Ich brauche Raum und Ruhe für mich. Mir gegenüber sitzt ein Mann mittleren Alters mit Vollbart, haselnussbraunen Augen und Locken. Kein Geschäftsmann, aber auch nicht sonderlich aus dem Rahmen fallend.

 Ich tue das, was ich so gerne tue, wenn ich morgens in der Bahn sitze: ich hole meine Stricksachen aus der Tasche und konzentriere mich ganz auf das von mir hergestellte Kleidungsstück. Lasse die Gedanken kreisen, während meine Finger wie von alleine arbeiten. Nutze diese 30 Minuten der Bahnfahrt bewusst für etwas das Sinn macht, das Hand und Fuß hat, und nicht etwa für Dinge wie Musik Hören oder Zeitschrift Lesen, die nur zur Überbrückung der Zeit gut sind.

 Ich bin schon einiges an Reaktionen gewöhnt, wenn Leute mich bei dieser Tätigkeit beobachten. Von "Ach, Stricken ist jetzt also wieder Trend?" über "Oh, wie interessant! Dass junge Leute sich jetzt mit so etwas altmodischem beschäftigen" bis hin zu "Kannst du mir die Anleitung zu dem Muster geben?". Der Mann, der mir gegenüber sitzt, hat ebenfalls bemerkt, was ich tue und beginnt leicht zu schmunzeln. Ich mache mich auf den Kommentar gefasst.

 Doch er sagt nichts weiter. Er beugt sich hinunter und hebt ebenfalls seine Tasche auf den Sitz, eine Art Einkaufskorb, öffnet den Reißverschluss und holt etwas hervor. Ein graues Wollknäuel, zwei dicke Rundnadeln und ein angefangenes Strickstück, ein Schal vielleicht. Meine Augen werden groß. Er bemerkt meinen Blick und erwidert ihn. Wir lächeln uns an, doch sagen nichts. Es ist eine wortlose Übereinkunft.

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